Die Güterverkehrspolitik der SBB auf dem Abstellgleis und warum die Verlagerung auf die Schiene nur noch auf dem Papier existiert
1994 hat das Stimmvolk der Alpeninitiative zugestimmt. Der Auftrag ist bis heute gültig. Der alpenquerende Güterverkehr soll von der Strasse auf die Schiene verlagert werden. Drei Jahrzehnte später ist die Bilanz ernüchternd. Das Ziel von 650 000 Lastwagenfahrten pro Jahr wird verfehlt. 2024 rollten nahezu 960 000 Fahrzeuge über die Alpen. SBB Cargo baut ab, schliesst Terminals und stellt die Rollende Landstrasse ein. Die Verlagerungspolitik verliert ihren Takt.
1. Der historische Auftrag
Die Alpeninitiative verankerte 1994 die Verlagerung in der Bundesverfassung. Artikel 84 hält fest: «Der alpenquerende Güterverkehr im Transitverkehr von Grenze zu Grenze erfolgt auf der Schiene.» Darauf folgten das Verlagerungsgesetz von 1999, später das Güterverkehrsverlagerungsgesetz und flankierende Instrumente wie die leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe. Die Schweiz investierte Milliarden in die Neue Eisenbahn Alpentransversale, in den Vier‑Meter‑Korridor und in Terminals.
2. Ziel und Wirklichkeit
Seit der Eröffnung des Gotthard‑Basistunnels schien das Ziel in Reichweite. In der Praxis blieb der Durchbruch aus. Das gesetzliche Maximum von 650 000 Lastwagenfahrten wurde nicht erreicht. Der Bahnanteil im alpenquerenden Verkehr sank zuletzt von rund 75 Prozent auf etwa 70 Prozent. Transporte verlagern sich zurück auf die Strasse, vor allem im Binnenverkehr mit kurzen Distanzen.
3. SBB Cargo im Rückzug
SBB Cargo weist 2024 ein deutliches Defizit aus. Der kombinierte Verkehr erwirtschaftet zu wenig, die Auslastung vieler Bedienpunkte ist gering. Das Unternehmen schliesst mehrere Terminals und fokussiert auf die Kernachse Nord–Süd. Gleichzeitig wird die Rollende Landstrasse 2025 vorzeitig eingestellt.
Dieser Satz bringt den Konflikt auf den Punkt. Die SBB soll wirtschaftlich arbeiten. Der Verlagerungsauftrag ist politisch, aber finanziell nicht hinterlegt. In der Konsequenz entscheidet die Betriebswirtschaft, nicht die Verkehrspolitik.
4. Qualität als Schlüssel
Verlagerung gelingt nur mit verlässlicher Qualität. 2024 kam es im Transit zu einer hohen Ausfallquote. Verspätungen, Störungen auf Zulaufstrecken und Personalmangel untergraben die Zuverlässigkeit. Verlader weichen aus, weil Planbarkeit über alles geht.
5. Die Ökonomie des Systems
Der Strassengüterverkehr profitiert von hoher Flexibilität und niedrigen Grenzkosten. Externe Kosten werden nur teilweise internalisiert. Die Bahn trägt Trassenpreise, Umschlag, längere Prozessketten und Investitionen in Rollmaterial. Jeder geschlossene Terminal verlängert den Vor‑ und Nachlauf auf der Strasse. Das verschiebt den Kostenvorteil weiter zum Lastwagen.
6. Politische Müdigkeit
In den 1990er Jahren war die Verlagerung nationaler Konsens. Heute ist sie Randthema. Der Geist von Artikel 84 verblasst. Ohne politisches Gewicht werden Investitionen in Qualität, Netz und Technik vertagt. Die Folge ist sichtbar. Es rollen mehr Lastwagen, die Bahn verliert Marktanteile und Glaubwürdigkeit.
7. Was jetzt zu tun ist
- Klares Mandat mit Budget: Verlagerung muss finanziert sein. Die SBB braucht einen expliziten Auftrag und eine Abgeltung für gemeinwirtschaftliche Leistungen im Güterverkehr.
- Qualitätspflicht und Servicegarantie: Verbindliche Kennzahlen für Pünktlichkeit, Ausfallquote und Anschlussqualität, transparent veröffentlicht.
- Terminalstrategie erneuern: Keine Schliessung ohne Ersatzmodell. Regionale Knoten sichern die Fläche, sonst gewinnt die Strasse.
- Preiswahrheit herstellen: Externe Kosten im Strassenverkehr besser internalisieren. LSVA und CO₂‑Bepreisung zielgenau kalibrieren.
- Technologie beschleunigen: Automatische Kupplung, digitale Prozesse, moderne Umschläge. Effizienz ist die beste Werbung für die Schiene.
8. Fazit
Die Schweiz besitzt die Infrastruktur für die Verlagerung. Es fehlt an Qualität, Netz und politischer Konsequenz. Wer die Alpeninitiative ernst nimmt, muss den Zielkonflikt zwischen Betriebswirtschaft und öffentlichem Auftrag auflösen. Erst wenn Verlagerung als Auftrag mit Mitteln gilt, kann die Bahn gewinnen. Alles andere bleibt Rhetorik.
Verkehrsverlagerung in Zahlen
LKW-Fahrten alpenquerend (Balken) und Bahnanteil in Prozent (Linie). Zielmarke bei 650 000 LKW p.a.
Quellenangaben
- Bundesamt für Verkehr – Alpeninitiative und Verlagerungspolitik Offizielle Informationen zum Verfassungsauftrag (Art. 84 BV) und zu den Zielen der alpenquerenden Güterverlagerung.
- Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Art. 84 Rechtsgrundlage der Verlagerungspolitik: Schutz der Alpen vor übermässigem Transitverkehr und Förderung des Schienengüterverkehrs.
- BAV – Verlagerungsbericht 2024 Aktuelle Zahlen zu LKW-Fahrten, Bahnanteil und Zielerreichung; Analyse der Verlagerungswirkung im alpenquerenden Verkehr.
- SBB Cargo – Medienmitteilung Juni 2025 Informationen zu Verkehrsverlusten, Terminalschliessungen und Restrukturierung der SBB Cargo Schweiz.
- Aargauer Zeitung – Interview mit SBB-Cargo-Chef (2025) Zitatquelle: «Mein Auftrag ist nicht die Verlagerung.» – Einblick in die marktwirtschaftliche Sicht der Bahnführung.
- SEV – Schweizerischer Eisenbahn- und Verkehrspersonalverband (2025) Gewerkschaftliche Stellungnahme zu Personalabbau, Arbeitsbelastung und Qualitätsproblemen im Güterverkehr.
- Pro Alps – Verlagerungsanalyse 2024 Aktuelle Einschätzung der Nachfolgeorganisation der Alpeninitiative zur Zielerreichung und den Ursachen der Stagnation.
- Basler Zeitung – «Steinzeittechnik, Grenzen, Bürokratie» (24. Mai 2025) Reportage über technische Rückstände und Systemprobleme im europäischen Schienengüterverkehr.
- Wikipedia – Rollende Landstrasse Hintergrund zur Entstehung, Funktionsweise und Einstellung der RoLa in der Schweiz.
- Bundesamt für Statistik – Mobilität und Verkehr (2024) Daten zu Verkehrsleistung, Gütertransport, Bahn- und Strassenanteilen sowie Entwicklung der CO₂-Emissionen.


