Wie Friedrich Dürrenmatt die ökonomische Wachstumsideologie demaskiert
Die Physiker, laut Untertitel eine Komödie in zwei Akten, ist ein Drama des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt. Es wurde 1961 verfasst und 1962 in Zürich uraufgeführt. Drei Physiker, die sich in einer psychiatrischen Klinik verstecken, tragen ein Wissen in sich, das die Welt vernichten könnte. Einer von ihnen, Möbius, hat die Weltformel entdeckt und versucht verzweifelt, deren Missbrauch zu verhindern. Seine Kollegen entpuppen sich als Agenten, die sein Wissen für ihre Staaten nutzbar machen wollen. Doch die wahre Gefahr geht nicht von ihnen aus, sondern von der Anstaltsleiterin, die die Formel bereits kopiert hat. Das Stück thematisiert die Verantwortung der Wissenschaft, die Macht des Zufalls und die Unfähigkeit der Vernunft, sich gegen Systeme durchzusetzen, die dem Wahn verfallen sind. Dürrenmatts Drama führt zur «schlimmstögliche Wendung»! Und diese tritt ein. Eine Tragikomödie, grotesk, prophetisch, von bedrückender Aktualität.
Die Schweiz hat in den letzten 24 Jahren ein beachtliches Arbeitsmarktwachstum erlebt: Über 1 Million neue Vollzeitstellen seit dem Jahr 2000. Ein Plus von rund 32 %. Eine vermeintliche Erfolgsgeschichte, die oft als Triumph des wirtschaftlichen Fortschritts gefeiert wird. Doch wer genauer hinschaut, erkennt das Paradox: Während die Zahl der Beschäftigten steigt, geraten unsere ökologischen Ressourcen, die Lebensqualität und unsere strategische Unabhängigkeit zunehmend unter Druck.
Ein aktueller Weckruf kommt aus den USA und er fällt hart aus:
Ab dem 7. August 2025 sollen auf zentrale Schweizer Exporte Zölle von bis zu 39 % erhoben werden. Uhren, Schokolade, Käse – aber auch Maschinen, Medizintechnik und Präzisionsgeräte stehen auf der Liste. Besonders heikel: Die Pharmabranche, einer der stärksten Exportsektoren der Schweiz, gerät zunehmend ins Fadenkreuz – wegen ihrer enormen Gewinne und der moralischen Frage, wie diese zustande kommen.
Was als Markt galt, wird nun zur Mahnung: Wer auf Profite ohne Mass setzt, riskiert Vertrauen und Zugang. Der globale Freihandel wird brüchig – und mit ihm die Illusion, dass ökonomisches Wachstum unabhängig von Ethik und Eigenverantwortung dauerhaft tragfähig ist.
Die Botschaft ist deutlich: Eine Wirtschaft, die auf globale Abhängigkeiten baut, wird von diesen auch erschüttert.
Begründet wird die Massnahme von Donald Trump mit «America First»: einer Politik, die Industrie zurückholen und sich aus globalen Abhängigkeiten befreien will auf Kosten langjähriger Partner. Während die USA auf Abschottung setzen, hält Europa am Dogma des quantitativen Wachstums fest – und gleicht strukturelle Schwächen zunehmend mit Migration aus, statt die Probleme nachhaltig zu lösen.
Dieser Vorgang entlarvt eine Illusion: Nämlich die Vorstellung, dass Wirtschaftswachstum per se Stabilität bedeutet. In Wirklichkeit zeigt sich, wie abhängig und verwundbar unsere ökonomischen Erfolge sind, wenn sie auf globalisierten Lieferketten, Handelsabkommen und grenzenlosem Wachstum beruhen. Und sie zeigt, wie fremdbestimmt eine Gesellschaft sein kann, die sich zu sehr auf äussere Wachstumsmotoren wie die USA verlässt.
Der Schweizer Arbeitsmarkt ist ein Sinnbild dafür: Die Zahl der Vollzeitäquivalente stieg zwischen 2000 und 2024 von 3.27 Mio. auf 4.32 Mio. Besonders stark wuchsen die Bereiche Gesundheit und Sozialwesen (+28.3 %), gefolgt von technischen Dienstleistungen, Bildung und Bau. Allesamt Branchen, die in ihrer Logik immer mehr Fläche, Energie, Infrastruktur und Menschen benötigen. Doch über das «Wohin» dieses Wachstums wird kaum diskutiert.
Friedrich Dürrenmatt hat diesen Mechanismus auf eine eigene, unvergleichliche Weise durchleuchtet.
In «Die Physiker» leben geniale Wissenschaftler in einer Anstalt, scheinbar verrückt, in Wahrheit aber klarsichtig. Sie ziehen sich aus der Welt zurück, weil sie erkennen: Ihr Wissen ist zu gefährlich für eine Gesellschaft, die es bedingungslos verwertet – angetrieben von Fortschrittsglauben, Machthunger und blindem Effizienzstreben.
Möbius verweigert die Veröffentlichung seiner Entdeckung, weil er weiss: Nicht alles, was denkbar ist, darf auch realisiert werden. Es ist ein Akt der Selbstbegrenzung, aus Einsicht in die Konsequenzen. Genau diese Haltung fehlt unserer Gegenwart: einer Zeit, in der das Prinzip des unbegrenzten Wachstums als alternativlos gilt.
Die moderne Wirtschaft gleicht einem System ohne innere Bremse. Sie expandiert, beschleunigt und verschlingt Ressourcen, Raum und schliesslich auch Menschen, die darin nur noch als «Human Resources» geführt werden.
Dürrenmatt zeigt, was geschieht, wenn Vernunft nicht mehr steuert, sondern instrumentalisiert wird.
Auch unsere Realität wird längst nicht mehr von Einsicht gelenkt, sondern von Systemzwängen. Politisch, ökonomisch, und technologisch. Die Wachstumsideologie hat sich von der Realität entkoppelt: Sie ignoriert ökologische Belastungsgrenzen, untergräbt soziale Balance und ersetzt Qualität durch Quantität.
Der Rückzug der Physiker ist ein stiller Schrei, ja eine Kapitulation vor einer Welt, die Wissen nicht zum Guten nutzt, sondern zur Maximierung von Macht und Output. Und so bleibt die entscheidende Frage: Haben wir noch die Kraft, aus dem Wissen um unsere Grenzen eine Zukunft zu bauen? Oder liefern wir uns weiter einer Logik aus, die kein Mass kennt und keine Rücksicht?
Die Parallele zur heutigen Ökonomie ist erschreckend deutlich. Wir entwickeln Systeme, die ihre eigene Dynamik erzeugen: Immer mehr Arbeit, immer mehr Menschen, immer mehr Infrastruktur. Doch kaum jemand fragt: Für was? Für wen? Und wie lange noch?
In Dürrenmatts Welt entgleitet die Kontrolle der Vernunft und fällt in die Hände der Macht.
Auch in unserer Zeit können ein paar Federstriche aus Washington oder Brüssel das Gleichgewicht einer ökonomischen Erfolgsgeschichte erschüttern. Und die Verträge, auf denen unsere Arbeitsplätze ruhen, sind meist rein wachstumsorientiert und nicht ökologisch, nicht resilient, nicht nachhaltig.
Was zunehmend fehlt, ist eine klare Unterscheidung. Nicht zwischen rechts und links, sondern zwischen dem, was trägt, und dem, was treibt. Zwischen gesundem Wachstum und blinder Expansion. Zwischen Versorgung und Überforderung. In einer Zeit, in der das «Immer mehr» zum unausgesprochenen Leitbild geworden ist, braucht es ein neues Mass: Eines, das Verantwortung über Geschwindigkeit stellt und Belastbarkeit über Zahlen.
Nicht der nächste Beschäftigungsrekord macht eine Gesellschaft zukunftsfähig, sondern ihr Gleichgewicht: zwischen dem, was Menschen leisten können, und dem, was Natur, Raum und soziale Strukturen verkraften. Die Kunst besteht darin, rechtzeitig zu erkennen, wann ein System aus dem Gleichgewicht gerät und nicht erst, wenn es kippt.
Die Ironie der «Physiker» und der heutigen Wachstumsgläubigkeit:
- Die Rationalen geben sich wahnsinnig, um die Welt zu retten
- Die Wahnsinnigen handeln rational, um sie zu beherrschen.
- Und die Moral? Sie setzt sich durch – aber ohne Wirkung. Denn die Macht hat längst ihren Ort gewechselt.
Vielleicht ist genau das die tiefere Parallele unserer Zeit:
In Dürrenmatts Welt fliehen die Vernünftigen in den Wahnsinn, aus Verantwortung. Die Macht hingegen tarnt sich mit Rationalität, aus Kalkül.
Heute jedoch erleben wir keine Umkehrung, sondern eine Verdrehung:
Wir berufen uns auf Vernunft, liefern Wachstumsargumente, geben uns multilateral, doch folgen Systemen, die längst autonom agieren. Die Fassade ist rational, doch unter ihr herrscht ein Automatismus, der Wirklichkeit systematisch ausblendet: ökologische Grenzen, soziale Spannungen, räumliche Überforderung.
Rationalität wird nicht mehr zur Orientierung genutzt, sondern zur Legitimation des «Immerweiter». Entscheidungen fallen dort, wo Konsequenzen nicht mehr bedacht, sondern nur noch gemanagt werden.
Was bleibt, ist das Wissen und die Einsicht, dass es ohne moralisches Korrektiv keine Wirkung entfaltet.
Oder, mit Dürrenmatt gesprochen:
«Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.»
Damit dies nicht eintritt, müssen wir neu zu denken beginnen – nicht später. Jetzt.
Quellen:
BFS, Beschäftigte nach Vollzeitäquivalenten und Wirtschaftsabteilungen, 18.06.2025
Fact#22, facts4future.ch
economiesuisse, News-Ticker zur US-Zollpolitik, Juli/August 2025


