Warum Freiwilligenarbeit zur Schweizer Wohlfahrt gehört und was passiert, wenn das BIP sie ignoriert
Es gibt eine Kraft in der Schweiz, die weder gewählt noch bezahlt wird, die keine Slogans braucht und selten Schlagzeilen macht. Und doch trägt sie mehr zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei als manch hochbezahlte Institution: die Freiwilligenarbeit.
Fast jede zweite Person ab 15 Jahren engagiert sich in der Schweiz freiwillig: in der Feuerwehr, im Samariterverein, bei der Jugendarbeit, in der Kirche, bei Bergrettungen, in Nachbarschaftshilfe, Flüchtlingsbegleitung oder als Trainerin im Quartierverein. Das ist keine Kleinigkeit, sondern volkswirtschaftlich ein Beitrag in Milliardenhöhe. Und menschlich betrachtet: unbezahlbar!
Doch was passiert, wenn diese Arbeit nicht gewürdigt wird?
Wenn Anerkennung fehlt
Freiwilligenarbeit lebt nicht von Geld, sondern von Sinn. Sie lebt davon, dass Menschen spüren, dass ihr Einsatz wertvoll ist. Wird diese Arbeit ignoriert oder gar als selbstverständlich abgetan, droht sie zu versiegen. Nicht aus Trotz, sondern aus innerer Erschöpfung.
Ein ungeklärtes Dilemma tritt auf: Die, die geben, tun es leise. Die, die nehmen, tun es oft blind. Die Folge ist ein gesellschaftliches Paradox: Wir rühmen uns als solidarisch und verlässlich, stehen aber vor der Gefahr, jene moralische Infrastruktur zu verlieren, die diese Schweiz überhaupt möglich macht.
Wer würdigt sie nicht?
Die Antwort ist unbequem: Es ist nicht «der Staat» allein, auch nicht «die Jungen», «die Ausländer» oder «die Reichen». Es ist die Haltung, die sich durch ökonomisierte Effizienzlogik, digitale Vereinzelung und gesellschaftliche Müdigkeit ausbreitet.
Es sind Entscheidungsträger, die Projekte nur fördern, wenn ein messbarer ROI (Return on Investment) vorliegt, aber keine Indikatoren für Empathie kennen. Es sind Medien, die lieber über Skandale berichten als über stille Helden. Es sind wir alle, wenn wir glauben, dass Dankbarkeit sich in Applaus oder Likes erschöpft.
Was auf dem Spiel steht
Wird die Freiwilligenarbeit nicht mehr als das gesehen, was sie ist, nämlich das soziale Fundament einer freien, humanen und resilienten Gesellschaft, riskieren wir eine stille Erosion. Institutionen können gekauft werden, Vertrauen nicht. Solidarität kann organisiert werden, aber nie befohlen. Und das Gemeinwohl kann man nicht outsourcen.
Die Schweiz lebt nicht nur von der Wirtschaft, sondern auch von der Bereitschaft, sich für andere einzusetzen. Unentgeltlich, unaufgefordert, unaufgeregt.
Doch das Bruttoinlandprodukt (BIP) misst ausschliesslich den Marktwert aller entgeltlich erbrachten Güter und Dienstleistungen. Unbezahlte Tätigkeiten, ob im Haushalt, in der Nachbarschaft oder in der Freiwilligenarbeit, fallen systematisch durch das Raster. Das betrifft etwa:
- Betreuung von Familie, Kindern oder Nachbarn
- Freiwilligenarbeit in Vereinen, Gemeinden, Kirchen, Feuerwehren etc.
- Pflege von Angehörigen
- Ehrenamtliche Einsätze in Sport, Kultur oder Umwelt
Die unsichtbaren Milliarden
Besonders gravierend ist: Mütter und Hausfrauen leisten mit fast 8 Milliarden Stunden Hausarbeit den grössten unentgeltlichen Beitrag, das sind rund 78 % der unbezahlten Arbeit. Pflege, Betreuung und Freiwilligenarbeit (z. B. im Verein, der Nachbarschaft, in Kirchen oder der Feuerwehr) machen zusammen etwa 22 % aus. Dieses Verhältnis zeigt klar, wer im Stillen den Laden am Laufen hält.
Im Freiwilligen-Monitor 2020 wurde der Zeitwert unbezahlter Arbeit auf über 408 Milliarden Franken geschätzt – mehr als das gesamte BIP der Schweiz desselben Jahres. Trotzdem bleibt diese Leistung im politischen Diskurs und in wirtschaftlichen Kennzahlen weitgehend unsichtbar.
Warum das problematisch ist
Weil dadurch ein entscheidender Teil der gesellschaftlichen Leistung nicht nur ignoriert, sondern systematisch entwertet wird, sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in politischen oder ökonomischen Entscheidungen. Es entsteht das trügerische Bild, dass «nur bezahlte Arbeit zählt», obwohl die unbezahlte Arbeit das soziale Fundament der Schweiz bildet.
Ein Beispiel: Die Freiwillige, die jeden Donnerstag das Mittagessen im Altersheim serviert, spart dem Heim Personal- und Sozialkosten. Oder der Nachbar, der hilft, die maroden Velowege im Dorf zu reparieren, bevor ein Kind verunfallt. Kein Lohnausweis, kein Applaus, aber ein Stein im Fundament des Miteinanders.
Gibt es Alternativen?
Ja. Das Bundesamt für Statistik (BFS) publiziert ergänzend sogenannte Satellitenkonten, darunter auch den Wert der unbezahlten Arbeit. Doch solange dieser Wert nicht in den zentralen politischen Kennziffern ankommt, bleibt er ein Schönwetterindikator: nett zu wissen, aber wirkungslos.
Es wäre an der Zeit, diese stille Grossmacht zur Sprache zu bringen. Nicht aus Pflichtgefühl, sondern aus kluger Weitsicht. Denn eine Gesellschaft, die ihre Freiwilligen nicht mehr hört, läuft Gefahr, das zu verlieren, was sie im Innersten zusammenhält.
Wert der Freiwilligenarbeit vs. BIP 2020
Quellen:
Amt für Statistik (BFS): Freiwilligen-Monitor Schweiz 2020
BFS: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung – BIP 2023


