Les Frontaliers


Grenzgänger-Boom: Mehr Köpfe, mehr Stau, mehr Fragen

Über 400 000 Menschen pendeln täglich in die Schweiz – mit Folgen für Klima, Verkehr und Arbeitsmarkt. ecologie suisse fragt: Wie viel Wachstum verträgt das Land?

Die nackten Zahlen wirken zunächst nüchtern: Im 2. Quartal 2025 arbeiteten rund 407 000 Grenzgängerinnen und Grenzgänger in der Schweiz. Davon 58 % mit Wohnsitz in Frankreich, 22,5 % in Italien und 16,3 % in Deutschland. Gegenüber dem 2. Quartal 2020 ist das ein Zuwachs von 20,1 % (damals 339 000). Diese Statistik des Bundesamts für Statistik (BFS) erfasst nicht einfach Bewilligungen, sondern tatsächliche erwerbstätige Personen mit Ausweis G. Basis sind Daten aus ZEMIS, AHV, beruflicher Grundbildung (SBG) und Arbeitsmarktstatistiken (SESAM). Abgänge werden nicht immer gemeldet, weshalb jüngste Quartale geschätzt und später revidiert werden .

Hinter der kühlen Methodik steckt eine Realität, die weder für den Verkehr noch für den Arbeitsmarkt oder die Klimaziele folgenlos bleibt. Ganz zu schweigen von den demographischen Folgen.

Die stille Annäherung an die «10-Millionen-Schweiz»

Ende 2024 lebten in der Schweiz offiziell rund 9,05 Millionen Menschen. Rechnet man die täglich anwesenden Grenzgängerinnen und Grenzgänger hinzu, steigt die funktionale Tagesbevölkerung auf etwa 9,46 Millionen. Das ist noch nicht die «10-Millionen-Schweiz», aber deutlich näher dran, als es die politische Debatte oft zugibt. Und: An Tagen mit Messe- und Tourismusschüben überschreiten wir punktuell schon jetzt die 10-Millionen-Marke. Infrastruktur, Verkehrsnetze und Umweltbelastung orientieren sich an dieser funktionalen Bevölkerung, nicht an der Wohnbevölkerung.

Ökologische Kosten: Emissionen, Stau, Raumdruck

Der Grenzpendelverkehr ist ein oft unterschätzter Klimafaktor. Der Verkehr bleibt in der Schweiz der grösste Verursacher von Treibhausgasen (2023: rund 33,6 % aller Emissionen). Jede zusätzliche tägliche Fahrt über die Grenze verschlechtert diese Bilanz, wenn kein Modal Shift stattfindet, also kein Wechsel vom Auto auf klimafreundlichere Verkehrsmittel wie Bahn, Bus oder Fahrrad. Der Wechselkurs wirkt dabei wie ein Hebel: Wird der Franken stärker, nehmen spürbar mehr Menschen aus Italien den Arbeitsweg in die Schweiz auf, und damit steigt auch das Verkehrsaufkommen und der CO₂-Ausstoss. Stau als Dauerzustand: 2023 gab es über 48 800 Staustunden auf den Nationalstrassen, mehr als 20 % über dem Vorjahr. Die Achsen in Grenzräumen wie Genf – Annemasse, Basel – Weil und Chiasso – Mailand sind dabei überproportional betroffen. Stau kostet Zeit, Geld, und blockiert jede Klimabilanz.

Raumdruck: Mehr Grenzpendel heisst auch: mehr Bedarf an Parkflächen, Transitachsen, Grenzinfrastruktur. Das bedeutet zusätzlichen Flächenverbrauch. Gerade in sensiblen Landschaften und Agglomerationsgürteln, wo die Biodiversität ohnehin unter Druck steht.

Arbeitsmarktfolgen – Verdrängung oder Ergänzung?

In einigen Branchen mit vielen Grenzgängern, etwa Bau, Gastronomie, Logistik, Pflege und Teilen der Industrie, zeigt sich: Ältere einheimische Arbeitskräfte, besonders jene über 50, verlieren häufiger ihren Job. Ob das nur an den Grenzgängern liegt, darüber sind sich Fachleute nicht einig. Klar ist aber: Wer aus dem Ausland kommt und auch da wohnt, hat oft tiefere Lebenshaltungskosten. Dadurch können Grenzgänger für Arbeitgeber günstiger sein, gerade wenn es um Lohn und Flexibilität geht. Firmen nutzen diesen Vorteil aus, besonders in Branchen, in denen der Preisdruck hoch ist.

Das Risiko: Wenn Grenzgänger nicht gezielt als Ergänzung eingesetzt werden, kann sich Altersarbeitslosigkeit verschärfen und das Vertrauen in einen fairen Arbeitsmarkt sinken.

Wachstum ohne Grenzen – ein Modellfehler

Die Debatte um Grenzgänger wird oft als ideologischer Schlagabtausch geführt: «Pro» oder «contra». ecologie suisse sieht das nüchterner: Das Problem ist nicht die Existenz von Grenzgängern – sondern ein Planungsansatz, der Mengenwachstum mit Fortschritt verwechselt.
Wenn zusätzliche Erwerbstätige ohne ökologische, verkehrliche und soziale Leitplanken in den Markt integriert werden, wächst zwar das BIP – aber auch Stau, CO₂, Raumdruck und sozialer Stress.

Steuerungsmodelle für eine zukunftsfähige Grenzpendelpolitik

Die folgenden vier Vorschläge sind keine endgültigen Lösungen, aber sie skizzieren, in welche Richtung wir denken sollten, wenn wir Grenzpendelverkehr, Klimaziele und einen fairen Arbeitsmarkt zugleich im Blick behalten wollen.

  1. Verkehrs- und Emissionsdeckel statt endloser Ausbaupolitik
    Grenznahe Korridore erhalten ein verbindliches Jahresbudget für Verkehrsemissionen und Staustunden. Wird es überschritten, greift ein automatischer Stufenplan: Fahrgemeinschaftspflicht, mehr grenzüberschreitende Bahnverbindungen, Einschränkung für Privatfahrzeuge zu Stosszeiten. So steuert man, bevor neue Betonpisten gebaut werden.
  2. Grenzpendeln entkoppeln, Arbeit digitalisieren
    Statt Arbeitsplätze und Wohnorte immer weiter zu trennen, wird in allen geeigneten Berufen ein verbindlicher Mindestanteil an Remote-Arbeit vorgeschrieben. Ziel: Reduktion der Grenzpendelkilometer um 30% bis 2030 – mit klar messbaren CO₂-Einsparungen.
  3. Sozialpartnerschaft 2.0: Qualität vor Quantität
    Ein einheitliches, transparentes Lohnregister für Grenzregionen macht Lohndumping unmöglich. Unternehmen, die qualifizierte Grenzgänger einstellen, verpflichten sich zugleich zu Ausbildungsplätzen für Einheimische – so wird der Arbeitsmarkt nicht nur günstiger, sondern auch fairer und zukunftsfähiger.
  4. Demografie-Bonus statt Frühpensionierungsfalle
    Betriebe, die Arbeitsplätze gezielt für über 50-Jährige inländische Fachkräfte schaffen, erhalten gezielte Steuererleichterungen oder Zuschüsse für Weiterbildung. Finanziert wird dies aus den Folgekosten, die ansonsten durch Verkehr, Infrastrukturverschleiss und ökologische Schäden entstehen.

Fazit – Vom Zählen zum Steuern

Die Grenzgängerstatistik ist mehr als eine Quartalszahl, sie ist ein Seismograf dafür, wie eng die Schweiz mit ihrem Umfeld verwoben ist. Die Realität: Wir leben in einem Wirtschafts- und Arbeitsraum, der schon heute faktisch > 9½ Millionen Menschen umfasst.
Die Herausforderung: Diese Realität so zu steuern, dass Lebensqualität, Klimaziele, Biodiversität und sozialer Zusammenhalt nicht erodieren. Das heisst: weniger ideologisieren, mehr integrieren, aber unter klaren, ökologisch tragfähigen Spielregeln.

Denn gute Nachbarschaft misst sich nicht an offenen Schlagbäumen allein, sondern an sauberen Luftwerten, flüssigem Verkehr und fairen Chancen. Diesseits und jenseits der Grenze.

ecologie suisse · Grenzgänger Q2 2025

Grenzgänger Q2 2025 – auf einen Blick

Verteilung nach Wohnsitz, Trend seit 2020. Quelle: BFS Grenzgängerstatistik.

Verteilung nach Wohnsitz

Q2 2025 (Anteile in %)

Entwicklung seit Q2 2020

Erwerbstätige Grenzgänger:innen (in Tausend)

Quellen: BFS Grenzgängerstatistik – Methodik · BFS Bevölkerung Schweiz



Quellen:

Bundesamt für Statistik – Grenzgängerstatistik (Methodik und Datenquellen)

BFS – Bevölkerung der Schweiz 2024 (Endjahreszahlen)

Bundesamt für Umwelt – Treibhausgasinventar Schweiz 2023

ASTRA – Verkehrsstatistik 2023 (Staustunden)

BFS – Arbeitsmarktindikatoren, Arbeitslosigkeit 50+


Weiterführende Informationen zu diesem Thema finden Sie hier: Facts4Future