Platzangst

Wohnen wird zum Privileg, Mieten explodieren, Boden wird zur Ware, und das Zuhause zur Frage des Überlebens. Ein Essay über das leise Beben am Fundament unserer Gesellschaft.

Im Jahr 2010 schrieb Philippe Müller, damaliger FDP-Präsident, einen bemerkenswert klaren und mutigen Bericht zur Raumplanung, Infrastruktur und Bevölkerungsentwicklung in der Schweiz. Was damals wie eine Mahnung aus der Zukunft klang, liest sich heute wie ein nüchternes Protokoll der Realität.

Die Bundesverwaltung rechnete, und die Politik staunte. Zwei Millionen zusätzliche Menschen seien laut Bundesamt für Raumentwicklung unterzubringen. Und das Umweltdepartement legte nach: Nur rund 200 Milliarden Franken müssten investiert werden, um nicht im totalen Kollaps zu enden. Die Botschaft war: Mehr ist machbar! Koste es, was es wolle.

Doch was dabei unterging, und was Müller hellsichtig erkannte, war die Qualität des Lebensraums. Die Rechnung basierte auf Fläche, Beton und Gigabit. Nicht auf Erholung, Nachbarschaft, Natur, oder schlicht: Luft zum Atmen. Der Horizont war technokratisch, nicht menschlich.

Heute, kaum anderthalb Jahrzehnte später, stehen wir mitten in der Konsequenz dieser Arithmetik: Wohnungsnot, galoppierende Mieten, verdrängte Mittelschichten, versiegelte Landschaften, überforderte Infrastrukturen und ein wachsender gesellschaftlicher Unmut, der sich nicht selten in Dichtestress und sozialem Rückzug äussert.

Was Müller 2010 formulierte, war kein Ressentiment gegen Zuwanderung, sondern ein systemischer Weckruf:

Wer jährlich 100’000 zusätzliche Menschen aufnimmt, muss erklären, wo sie wohnen, wie sie sich fortbewegen, wovon sie leben unter Berücksichtigung der wachsenden Lebenserwartung, ohne dass dabei das Land unter ihnen schwindet.

Die Idee, dass stetiges Wachstum per se zu Wohlstand führt, hat sich inzwischen als ökonomische Illusion und ökologische Gefahr erwiesen. Denn nicht der Kuchen allein zählt, sondern wie viele davon essen. Das BIP pro Kopf, das eigentliche Wohlstandsbarometer, zeigt, dass mit wachsender Bevölkerung nicht automatisch mehr Lebensqualität entsteht, sondern zunehmend Druck auf Raum, Ressourcen und sozialen Frieden.

Die Wohnungsnot, wie wir sie heute erleben, ist nicht einfach das Resultat von zu wenig Bauen, sondern von zu viel Planen ohne Begrenzung. Ein Haus lässt sich in zwei Jahren errichten, aber ein Lebensraum? Der braucht Generationen.

Müller stellte 2010 die entscheidende Frage: Wie viele Menschen erträgt dieses Land, ohne seine Identität, seinen Frieden und seine Zukunft zu verlieren?

Damals zu früh. Heute zu spät?

Vielleicht nicht. Noch wäre es möglich, die richtigen Weichen zu stellen – nicht gegen Menschen, sondern für eine nachhaltige Schweiz, die wieder lernt, zwischen Quantität und Qualität zu unterscheiden. Die Raumplanung braucht Vision statt Bürokratie, die Politik Mut statt Schönfärberei, und wir alle einen Begriff von Wohlstand, der nicht nur am Monatsende zählt, sondern am Ende einer ganzen Generation.