Wohlfahrt ist mehr als ein Wort, sie ist das Versprechen eines guten Lebens für alle
Lebensqualität ist mehr als Strom, Böden und Luft. Sie ist das Ganze: das gute Leben für möglichst viele Menschen in der Schweiz. Und in diesem Zusammenhang führt kein Weg an einem Begriff vorbei: Wohlfahrt.
Wohlfahrt bedeutet mehr als Wohlstand. Sie umfasst nicht nur materielle Sicherheit, sondern auch Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Bildung, Gesundheit und das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Die Bundesverfassung nennt sie im Zweckartikel ausdrücklich: «Die Eidgenossenschaft fördert die gemeinsame Wohlfahrt, die nachhaltige Entwicklung, den inneren Zusammenhalt und die kulturelle Vielfalt des Landes» (Art. 2, Abs. 2).
Das ist bemerkenswert, denn es zeigt: Wohlfahrt ist kein Luxus, sondern ein Verfassungsauftrag. Sie ist ein Zustand, in dem Menschen über genügend Mittel verfügen und ihr Leben selbstbestimmt gestalten können. Dennoch ist der Begriff aus der öffentlichen Debatte fast verschwunden. Vielleicht, weil er altmodisch klingt. Vielleicht, weil er schwer messbar ist.
Gerade heute wäre er dringender denn je. Viele Menschen spüren steigende Belastungen: höhere Lebenshaltungskosten, knapper werdenden Wohnraum, gesellschaftliche Veränderungen, die verunsichern. Hinzu kommen ökologische Sorgen wie der Verlust an Natur- und Kulturlandschaft. All das beeinflusst das Wohlbefinden und damit die Wohlfahrt.
Der Bund misst sie im sogenannten Wohlfahrtsbarometer. Mehr als 40 Indikatoren aus Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt fließen ein – von Lebenserwartung, Einkommen und Bildungsstand über Biodiversität bis zu Vertrauen in Institutionen, Sicherheitsgefühl und Freiheitswahrnehmung.
Wohlfahrt ist also breit gefasst, und das ist gut so. Denn Lebensqualität ist individuell. Was für den einen Zeit mit der Familie bedeutet, kann für die andere kulturelle Teilhabe oder gesunde Ernährung sein. Entscheidend ist der gemeinsame Rahmen, der sicherstellt, dass diese Vielfalt möglich bleibt.
In der Volkswirtschaftslehre, etwa bei Rolf Dubs, wird Wohlfahrt mit fünf Schlüsselfaktoren beschrieben:
• Wohlstand (Zugang zu Gütern und Dienstleistungen)
• Freiheit (Möglichkeit zur Selbstentfaltung)
• Gerechtigkeit (ausgleichende Chancenverteilung)
• Sicherheit (soziale und gesellschaftliche Stabilität)
• Fortschritt (dauerhafte Verbesserung von Lebensbedingungen)
Ich bin überzeugt:
Wenn wir politisch oder wirtschaftlich entscheiden, sollten wir uns immer fragen: führt das zu einem Wohlfahrtsgewinn oder zu einem Wohlfahrtsverlust? Und wenn Letzteres der Fall ist, sollten wir diese Entscheidung überdenken.
Als Präsident von ecologie suisse ist es mir ein Anliegen, diesen Begriff wieder stärker ins Bewusstsein zu rücken. Wohlfahrt ist kein abstraktes Konzept. Sie zeigt sich im Alltag, in einer warmen Wohnung, einer stabilen Arbeitsstelle, einer intakten Landschaft, in Bildung für alle und in solidarischen Beziehungen.
Wir wollen dazu beitragen, dass Wohlfahrt wieder eine Rolle spielt: in der Politik, in der Wirtschaft und in der öffentlichen Diskussion.
Denn eine Gesellschaft, die ihre Wohlfahrt ernst nimmt, sorgt für ihr Morgen, nicht nur für ihr Heute.
Roland Schmutz, Präsident ecologie suisse


