Raum ist kein Rechenbeispiel. Wie die Schweiz das Gleichgewicht zwischen Wachstum, Lebensqualität und Natur wiederfinden kann
Die Schweiz redet über Raum, als wäre er ein technisches Problem: zu wenig Fläche, zu viele Menschen. Studien versprechen, man könne Millionen weitere Einwohner aufnehmen, wenn dichter gebaut würde. Doch diese Rechnung verwechselt Raum mit Leben und Wachstum mit Wohlfahrt.
Zuwanderung kein Problem?
Einige sehen kein Problem darin, wenn die Schweiz weiterwächst. Zwei Millionen Menschen mehr, so heisst es, könne unser Land problemlos verkraften. Doch wer genauer hinschaut, erkennt: Mehr Menschen bedeuten mehr Druck auf Raum, Natur und Lebensqualität. Die Dichte steigt, der Wohlstand sinkt, und das tägliche Leben wird spürbar beengter.
Die Bundesverfassung verpflichtet den Staat nicht, möglichst viele Menschen unterzubringen, sondern die gemeinsame Wohlfahrt zu fördern. Wohlfahrt bedeutet gute Lebensbedingungen, soziale Sicherheit, gesunde Umwelt und Zeit füreinander. Genau das aber gerät aus dem Blick, wenn Verdichtung zur Doktrin wird.
Die falsche Formel
Raumplaner und Ökonomen lieben einfache Gleichungen: mehr Menschen pro Fläche gleich mehr Effizienz. Doch das ist eine Fehlinterpretation des Fortschritts.
Die wahre Gleichung lautet: Wohlfahrt ist Lebensqualität minus Belastung.
Lebensqualität bedeutet Licht, Ruhe, Sicherheit und Nähe zur Natur. Belastung bedeutet Lärm, Enge, Stress und Verdrängung. Wenn die Belastung schneller wächst als die Lebensqualität, sinkt die Wohlfahrt, selbst wenn die Statistik zeigt, dass mehr Menschen Platz finden.
Das Paradox der Dichte
In der Schweiz wohnen wir auf rund 46 Quadratmetern pro Person. In Städten weniger, auf dem Land mehr. Doch Dichte allein sagt nichts über Glück aus. Eine Siedlung kann dicht sein und lebendig oder dicht und bedrückend. Entscheidend ist die Qualität der Dichte. Gibt es Licht, Bäume, Rückzugsorte, soziale Nähe?
Wenn Verdichtung Lebensqualität ersetzt statt sie zu steigern, wird sie zum Gegenteil dessen, was sie verspricht. Nachhaltigkeit beginnt nicht bei der Geschosszahl, sondern bei der Frage, wie wir zusammenleben wollen.
Wachstum ist kein Selbstzweck
Seit dem Jahr 2000 ist die Schweizer Bevölkerung um mehr als 23 Prozent gewachsen, zu 80 Prozent durch Zuwanderung. Der Ruf nach Verdichtung ist also nicht falsch, aber einseitig. Wer nur die Fläche optimiert, ohne das Wachstum zu hinterfragen, betreibt Symptombehandlung statt Zukunftspolitik.
Eine verantwortliche Raumstrategie braucht Ehrlichkeit. Wie viele Menschen verträgt dieses Land, ohne dass Wohlfahrt, Natur und Zusammenhalt leiden? Wie sichern wir Boden für Ernährung, Artenvielfalt und Ruhe? Das sind keine romantischen Fragen, sondern Kernpunkte staatlicher Verantwortung.
Wenn Wohlfahrt das Ziel ist, braucht sie Instrumente. Dazu gehören so etwas wie ein nationaler Bodenfonds, der wertvolle Flächen sichert, ein stärker auf Lebensqualität ausgerichtetes Raumplanungsgesetz (RPG) und regionale Leitbilder, die nicht nur Wachstum, sondern auch Ruhe, Grünräume und Versorgungssicherheit koordinieren.
Raumplanung darf nicht dem Markt überlassen bleiben. Sie ist eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Kantonen und Gemeinden – und sie braucht Mut, klare Prioritäten zu setzen.
Der verfassungsmässige Auftrag
Artikel 2 der Bundesverfassung nennt vier Ziele des Bundes: Freiheit, Sicherheit, Unabhängigkeit und Wohlfahrt. Damit ist klar, dass Lebensqualität keine Privatsache ist, sondern ein öffentlicher Auftrag.
Raumplanung ist kein Bauprojekt, sondern ein Gesellschaftsprojekt. Sie soll sicherstellen, dass jeder Mensch Platz findet, nicht nur zum Wohnen, sondern zum Leben.
Die neue Formel
Die Formel der Zukunft ist einfach: Lebensqualität + Gerechtigkeit + Intakte Natur minus Belastung
Eine Gesellschaft ist dann erfolgreich, wenn sie gut lebt, fair teilt und ihre Lebensgrundlagen erhält.
Ökologische Integrität bedeutet, dass Böden, Wälder, Wasser, Klima und Artenvielfalt im Gleichgewicht bleiben. Ohne dieses Gleichgewicht gibt es keine echte Wohlfahrt, sondern nur Wohlstand auf Pump.
Das Ziel
ecologie suisse setzt sich dafür ein, dass die Schweiz ihren Raum wieder als Gemeingut versteht, nicht als Renditefläche.
Verdichtung darf kein Dogma sein, sondern ein Werkzeug im Dienst der Lebensqualität.
Boden ist nicht unendlich, und Freiheit beginnt dort, wo Menschen nicht aufeinander gedrängt, sondern miteinander verbunden leben.
Der Auftrag des Staates ist klar: Er soll die Wohlfahrt fördern, nicht Wachstum erzwingen.
Denn ein Land, das alles verdichtet, verliert am Ende das, was es eigentlich bewahren wollte – das Leben selbst.
Wäre es nicht an der Zeit, Raum nicht länger zu berechnen, sondern zu gestalten?
Netto-Wohlfahrt Schweiz 2024
Die Netto-Wohlfahrt ergibt sich als Mittelwert der drei Nutzenkomponenten Lebensqualität, Gerechtigkeit und intakte Natur – abzüglich der gesellschaftlichen Belastung. Alle Werte sind auf einer 0–100-Skala normiert.
Kennzahlen 2024
Lebensqualität
Gerechtigkeit
Intakte Natur
Belastung wird abgezogen
Netto-Wohlfahrt 2024
Abreissen oder Aufstocken?
Neubauten verursachen beim Abriss und Ersatzbau ein Vielfaches an grauer Energie im Vergleich zur Aufstockung oder Sanierung bestehender Gebäude. Der Unterschied zeigt sich deutlich im CO₂-Ausstoss pro neu geschaffene Wohnung.
Durchschnittswerte Schweiz: Ersatzneubau ≈ 28 t CO₂ pro Wohnung · Aufstockung ≈ 12 t CO₂ pro Wohnung. Quellen: BAFU 2024 · KBOB Ökobilanzdaten · ETH Raumentwicklung / ecologie suisse Berechnungen.
Quellenangaben
- Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Art. 2 Verfassungsmässiger Auftrag zur Förderung der gemeinsamen Wohlfahrt, nachhaltigen Entwicklung und des inneren Zusammenhalts.
- BFS – Ständige Wohnbevölkerung 2024 Aktuelle Bevölkerungszahl 9,034 Mio. Einwohner; Datengrundlage für Szenario + 2 Mio. Einwohner.
- ARE – Innenentwicklung mit Qualität (2021) Leitfaden und Kriterienkatalog zur qualitativen Innenentwicklung und Siedlungsdichte.
- ETH Zürich – Neubauten verdrängen vulnerable Personen (2023) Forschungsergebnisse zu sozialen Folgen der Verdichtung und zu Verdrängungseffekten.
- BAFU – Umweltindikatoren Lärm Indikatoren zu Lärmbelastung, Verkehrsdichte und Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden.
- BAFU – Zustand der Biodiversität in der Schweiz Daten zur ökologischen Integrität im Siedlungs- und Agrarraum; Grundlage für Indikator «Grün».
- Wüest Partner – Siedlungsqualität und Wohnen (2024) Ergebnisse zur wahrgenommenen Wohn- und Lebensqualität in dicht bebauten Gebieten.
- ZHAW – Stadtgrün und psychische Gesundheit (2020) Empirische Analyse zur Bedeutung urbaner Vegetation für das Wohlbefinden.
- BFS – Wohnfläche pro Person Entwicklung der durchschnittlichen Wohnfläche und Implikationen für Flächennutzung.
- BFS – Arealstatistik: Bodennutzung und Bedeckung Verteilung der Landesfläche: 8 % Siedlungsfläche, 36 % Landwirtschaft, 31 % Wald, 21 % unproduktive Flächen.
- BFS – MONET 2030 Indikatorensystem Basisdaten zur nachhaltigen Entwicklung, Lebensqualität und Netto-Wohlfahrt (2024).
- BFS – SILC-Erhebung 2024 Daten zu Lebenszufriedenheit, Einkommenslage und subjektivem Wohlbefinden.
- Blick – «Einfamilienhäuser sind nicht mehr zeitgemäss» (2025) Interview und öffentliche Debatte über Verdichtung, Raumplanung und Wohneigentum in der Schweiz.


