Wie die stille Krise von Wachstum und Verdrängung die Schweiz an ihre Grenzen bringt.
«Eusi Lüüt händ es Recht uf Heimat.» So lautet der Kern einer neuen Volksinitiative im Kanton Zürich. Sie verlangt, dass Schweizerinnen und Schweizer sowie langjährig Ansässige bei Wohnungsnot Vorrang haben sollen. Für die einen ist das ein Tabubruch, für andere eine längst überfällige Notbremse.
Eines ist klar: Wohnungsnot ist längst kein Randthema mehr. Sie bedroht die Lebensqualität und damit die Wohlfahrt im ganzen Land.
Fakten, die nicht wegzudiskutieren sind
Zwischen den Jahren 2000 und 2022 ist die Bevölkerung der Schweiz um mehr als 23 Prozent gewachsen, rund 80 Prozent davon migrationsbedingt (BFS). Die Leerwohnungsquote liegt schweizweit bei 1,08 Prozent, in Zürich praktisch bei null (BWO/BFS).
Eine ETH-Studie von 2023 zeigt: In der Zürcher Agglomeration wird etwa eine von hundert Personen durch steigende Mieten aus der Wohnung verdrängt. Das klingt nach wenig, doch hochgerechnet auf die rund 1,45 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner der Agglomeration betrifft dies jedes Jahr etwa 14’500 Menschen. Und da die Studie zwei Jahre zurückliegt, dürfte die aktuelle Zahl sogar noch höher sein.
Gleichzeitig belasten die Krankenkassenprämien die Haushalte immer stärker: Für 2026 ist eine mittlere Monatsprämie von 393 Franken angekündigt. Ein Anstieg um 4,4 Prozent. Wer mit den Prämien in Verzug gerät, landet rasch im Betreibungsregister.
Zwei Krisen, eine Falle
Man könnte nun fragen, was Wohnungsnot und Krankenkassenprämien miteinander zu tun haben. Auf den ersten Blick nichts. Doch in der Praxis verschränken sie sich.
Bei älteren Menschen: Wer nach dem Auszug der Kinder keine kleinere und günstigere Wohnung findet, bleibt in zu grossen Wohnungen gefangen. In Zürich kostet eine ältere 4-Zimmer-Wohnung im Durchschnitt über 2’200 Franken im Monat, auch wenn nur noch eine Person darin lebt. Kommen die Krankenkassenprämien hinzu, für eine 70-jährige Person sind dies schnell 500 bis 600 Franken monatlich, bleibt von einer mittleren Rente kaum genug übrig. Gerät man mit diesen Prämien in Verzug, landet man im Betreibungsregister. Mit einem negativen Eintrag ist es in der Schweiz praktisch unmöglich, eine neue Wohnung zu mieten, auch keine kleinere und günstigere.
Bei jungen Menschen und Familien: Steigen die Mieten, verschlingt die Wohnung oft einen Drittel oder gar die Hälfte des Einkommens. Eine 4½-Zimmer-Wohnung für eine Familie mit zwei Kindern kostet im Kanton Zürich durchschnittlich 2’800 Franken. Dazu kommen Krankenkassenprämien von über 1’200 Franken für zwei Erwachsene und zwei Kinder. Schon bevor Essen, Transport oder Betreuung bezahlt sind, ist ein grosser Teil des Budgets blockiert. Gerät die Familie einmal ins Hintertreffen, etwa wegen einer Zahnarztrechnung von 2’000 Franken oder einer unbezahlten Prämie, droht auch hier der Eintrag ins Betreibungsregiste.
So verweben sich zwei Krisen, die scheinbar getrennt verlaufen, zu einer einzigen sozialen Falle – egal ob jung oder alt.
Der Cantillon-Effekt des Wachstums
Ökonomen nennen es den Cantillon-Effekt: Wer als Erster vom Wachstum profitiert, gewinnt. Wer zuletzt drankommt, zahlt die Zeche.
Ein Beispiel macht es deutlich: Ein wohlhabender Mäzen verschenkt nach und nach Hundertfrankenscheine an die Bewohner seiner Stadt. Die Ersten eilen sofort in die Läden: Brot kostet 5.30 Franken, eine Flasche Wein 13.50. Sie kaufen zu aktuellen Preisen. Doch bis auch die Letzten ihren Hunderter erhalten haben, hat der Ladenbesitzer wegen der gestiegenen Nachfrage die Preise bereits erhöht: Brot kostet nun 6 Franken, der Wein 15. Für denselben Geldschein bekommen die Letzten deutlich weniger.
Der Cantillon-Effekt der unbegrenzten Zuwanderung
Während Menschen und Familien keine Wohnung mehr finden, kassieren institutionelle Investoren: Versicherungen, Pensionskassen und börsenkotierte Immobiliengesellschaften verwalten Milliardenportfolios und erzielen jährliche Renditen von bis zu fünf Prozent. In den letzten 15 Jahren flossen so rund 78 Milliarden Franken an Immobilienspekulanten. (vergl. BASS-Studie)
Für Anleger bedeutet das Gewinn, für Einheimische Verdrängung.
Eine Initiative trifft den Nerv
Die Zürcher Volksinitiative ist umstritten, doch sie trifft ins Herz der Debatte. Viele Menschen fühlen sich im eigenen Land zurückgedrängt. Nicht, weil sie gegen Wirtschaftswachstum sind, sondern weil sie spüren, dass ein persönliches Zuhause im Spiel der Märkte nicht mehr selbstverständlich ist, weil der Wohlfahrtsgedanke an den Meistbietenden verscherbelt wurde.
Wohnungen werden nicht mehr nach Verwurzelung oder Lebensleistung vergeben, sondern nach Kaufkraft. Wer nicht mithalten kann, fühlt sich im eigenen Land plötzlich ausgesperrt.
Fazit
Massenzuwanderung und grenzenloses Wachstum sind kein Fortschritt, sondern ein Denkfehler. Wohnungsnot und Krankenkassenprämien sind keine Randthemen, sondern Ausdruck derselben Fehlentwicklung: ein System, das zuerst kurzfristige Vorteile verteilt, während die langfristigen Kosten verdrängt werden. Die ökologischen Folgen und die Gefährdung der Wohlfahrt werden dabei kleingeredet, stets überdeckt vom wohlklingenden Argument des Arbeitskräftemangels.
«Ein Zuhause ist keine Ware.» Dieser Satz erinnert uns daran, dass Wohnen mehr ist als ein Dach über dem Kopf. Es ist die Grundlage für Würde, Sicherheit und Zusammenhalt.
Die Schweiz steht an einem Punkt, an dem sie entscheiden muss: Wollen wir weiterwachsen um jeden Preis, oder endlich handeln, damit Heimat wieder das bedeutet, was sie sein soll: ein Ort zum Leben, nicht zum Überleben.
Bevölkerungswachstum & Nettozuwanderung
2000–2025 wuchs die Bevölkerung um ~25 %, davon geschätzt ~75–80 % migrationsbedingt.
Mieten vs. Kostenentwicklung
Seit 2006 steigen Mieten deutlich stärker als die zugrunde liegenden Kosten.
Leerwohnungsziffer
Schweiz 1,08 % (2024). Stadt Zürich 2025 0,10 %. Genf 2024 0,47 %. Basel-Stadt 2024: 0,80 % (897 Whg.).
Prämie & Ergänzungsleistungen
Mittlere Prämie 2026: 393.30 Fr. (+4,4 %). EL-Ausgaben 2024: 5,9 Mrd. Fr. (+4,1 %).
Verdrängung: Agglomeration Zürich (ETH 2023)
ETH-Befund: «≈ 1 % p.a. wird verdrängt.» Bei ~1,45 Mio. Einwohnern entspricht das ca. 14 500 Personen/Jahr.
Quellenangaben
- BSV – AHV-Statistik 2023 2 546 000 Personen bezogen Ende 2023 eine Alters- oder Hinterlassenenrente.
- BFS – Armutsquoten (SILC) Armutsquote ab 65 Jahren: 15,2 % (aktuelle Tabellenübersicht).
- Pro Senectute – Altersmonitor 2022 (PDF) Rund 200 000 ältere Menschen arm, ca. 300 000 armutsgefährdet; Hintergrundanalysen.
- BAG – Prämien 2026 Mittlere Prämie 2026: 393.30 Fr. / Monat, +4,4 % ggü. 2025.
- BSV – Statistik der Ergänzungsleistungen 2024 (PDF) EL-Ausgaben 2024: 5,9 Mrd. Fr. (+4,1 %); Finanzierungsstruktur Bund/Kantone.
- LUSTAT (Kanton Luzern) – Ergänzungsleistungen Zahlen zu EL-Beziehenden und Leistungen im Kanton Luzern (inkl. Kontext Pflege/Heim).
- Wüest Partner – Leerstandsquote Schweiz 2024 Leerwohnungsquote 2024: 1,08 % (BFS-Daten, Einordnung zum Gleichgewichtsniveau).
- Stadt Zürich – Leerwohnungsziffer 2024 169 leere Wohnungen; Leerwohnungsziffer 0,07 % per 1. Juni 2024.
- Stadt Zürich – Leerwohnungsziffer 2025 235 leere Wohnungen; Leerwohnungsziffer 0,1 % per 1. Juni 2025.
- Kanton Zürich – Leerwohnungszahlen 2025 Leerwohnungsziffer im Kanton Zürich: 0,48 % (Statistisches Amt, 1. Juni 2025).
- Büro BASS im Auftrag MV – Mietrenditen-Studie (PDF) Mieten stiegen deutlich stärker als nach Kostenentwicklung zu erwarten (2006–2021).
- Aktualisierte Berechnungen Mietrenditen 2006–2023 (PDF) Abgleich Mietzinsentwicklung vs. rechtlich zulässige Kostenfaktoren; Überhöhung ausgewiesen.
- PriceHubble – Mietrenditen in Schweizer Städten Median-Renditen u. a. Zürich ~2,4 %, Bern ~3,1 % (Renditekarten und Methodik).
- HEV – Fakten zu Immobilienrenditen Bruttorenditen Schweiz rund 3 % im Europavergleich; Langfristtrend seit 2001.
- SIPA (unter Verweis auf BASS) – Auszahlungen an Eigentümer Hinweis auf rund 78 Mrd. Fr. an Wohnungseigentümer in 15 Jahren (BASS-Analyse).
- BWO – Studie «Bautätigkeit und Verdrängung» (ETH Zürich) Verdichtung und Verdrängung in den fünf grössten Agglomerationen; ETH-Studie im Auftrag des BWO.
- ETH Zürich – «Neubauten verdrängen vulnerable Personen» Befunde zu Verdrängungseffekten bei Ersatzneubauten, inkl. Bericht-Verweis.
- Tsüri.ch – «Eine von 100 Zürcher:innen wird verdrängt» Bericht und Interview zur ETH-Studie; Einordnung der Quote für Zürich.
- BWO/FHNW – Studie «Obdachlosigkeit in der Schweiz» Schätzung: ca. 2 200 obdachlos, ca. 8 000 vom Wohnungsverlust bedroht (Bundesstudie, 2022).
- SWI swissinfo.ch – «Tausende Senior:innen rutschen in die Armut ab» Reportage und Datenlage zu Altersarmut, Mieten und Krankenkassenprämien.


