Was die JFDP an der Wirtschafts-Uni nicht gelernt hat
Wenn Jungpolitiker Wirtschaft spielen, kommt manchmal etwas ins Rutschen. Zuweilen sogar der Boden unter den Füssen.
Die «Jungfreisinnigen Schweiz» fordern mutig den schrittweisen Abbau sämtlicher Agrarzölle. Was ihnen dabei vorschwebt: günstige Cherrytomaten aus Kalifornien, mehr Freihandel mit den USA und eine entschlossene Marktöffnung. Was sie dabei übersehen: das Land, auf dem sie stehen. Buchstäblich.
731 Franken Zoll auf 100 Kilo amerikanische Tomaten: Das Beispiel ist so absurd, dass es beinahe überzeugt. Doch wer es genauer anschaut, sieht: Hinter dieser Zahl stehen nicht Bürokraten, sondern Bauern. Und hinter den Bauern: Landschaften, Erholungsräume, Böden, Kulturgüter, ein Stück Schweiz.
Die Schweiz ist keine Freihandelsinsel
Natürlich sind die Zölle in der Schweiz hoch. Und ja: Das Leben ist teuer. Doch was oft als «landwirtschaftlicher Heimatschutz» verspottet wird, ist in Wahrheit ein Schutz unserer Lebensgrundlagen. Denn ohne eine funktionierende, resiliente Landwirtschaft im Inland hängt unsere Ernährung zunehmend nicht nur an Schiffsrouten, Containern oder Flugzeugrampen, sondern auch am Wetter in Kalifornien, den Düngermärkten in Fernost oder den Arbeitsbedingungen von Wanderarbeitern in Süditalien, Spanien und Mexiko.
Was auf den ersten Blick wie Vielfalt und Versorgungssicherheit erscheint, etwa ganzjährig verfügbare Beeren oder Avocados, beruht oft auf ökologisch riskanten und sozial fragwürdigen Lieferketten. So weist etwa die FAO darauf hin, dass der globale Agrarhandel nicht nur hohe Treibhausgasemissionen verursacht, sondern vielerorts mit prekärer Ausbeutung von Arbeitskräften einhergeht. Studien belegen, dass insbesondere Saisonarbeiterinnen und Arbeiter in der spanischen und italienischen Landwirtschaft unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten müssen, oft ohne Zugang zu Sozialversicherungen oder Rechtsanspruch auf faire Entlöhnung.
Versorgungssicherheit ist mehr als Preiskomfort im Supermarkt. Sie erfordert robuste, faire und ökologisch tragfähige Strukturen. Wer meint, man könne diese Verantwortung einfach auslagern, verkennt die systemische Verwundbarkeit einer vollständig importabhängigen Ernährung.
Man muss sich schon fragen: Was nützt die billigste Orange, wenn der Hof nebenan schliesst, der Boden versiegelt wird und irgendwann nur noch Logistikzentren blühen?
Agrarpolitik ist mehr als Märkte
Dass die Preise für Lebensmittel in der Schweiz über dem EU-Durchschnitt liegen, ist kein Geheimnis. Aber billig ist nicht immer besser, zumindest nicht, wenn man Ernährungssouveränität, Tierschutz und ökologische Standards ernst nimmt. In der Landwirtschaft treffen Ökonomie und Ökologie aufeinander. Wer da nur das eine sieht, betreibt Schönwetterpolitik.
Die Jungfreisinnigen scheinen mit ihren Forderungen weniger die strukturelle Verwundbarkeit unseres Ernährungssystems im Blick zu haben als den reibungslosen Warenverkehr. Sie sprechen von Versorgungssicherheit, meinen aber Belieferungssicherheit. Das ist ein fundamentaler Unterschied: Der eine baut auf Resilienz, der andere auf Container.
Was Bauern wirklich leisten
Die Schweizer Bauern sind keine Subventionsempfänger in Gummistiefeln, sondern systemrelevante Akteure mit ökologischer Doppelfunktion. Sie pflegen über 25 Prozent unserer Landesfläche, sichern Biodiversität, speichern CO₂, halten Kulturland offen, und leisten dabei oft unbezahlte Mehrarbeit, die in keiner Bilanz erscheint, auch nicht im BIP.
Man muss kein Patriot im Edelweisshemd sein, um zu erkennen: Ohne die Bauern sähe die Schweiz nicht nur anders aus, sie wäre es auch. Was heute wie eine Selbstverständlichkeit wirkt, nämlich gepflegte Kulturlandschaften, regionale Produkte, und lebendige Dörfer, beruht auf täglicher Arbeit, die weder globalisiert noch ausgelagert werden kann.
Wer meint, man könne die Schweizer Landwirtschaft bedenkenlos «dem Markt überlassen», unterschätzt zweierlei: den Wert der Bauern und die Blindheit des Marktes. Denn dieser Markt kennt keine Hecken, keine Trockenmauern, keine Kreislaufwirtschaft. Er rechnet in Kilopreisen, nicht in Lebensqualität. Und er vergisst, was nicht in die Excel-Tabelle passt: Bodenfruchtbarkeit, soziale Stabilität und Artenvielfalt.
Was zudem völlig ausgeblendet wird, sind die tatsächlichen Umwelt- und Sozialkosten globaler Lieferketten: CO₂-Emissionen durch weite Transporte, hoher Energieverbrauch, ausgelaugte Böden, prekäre Arbeitsbedingungen. Laut dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) entstehen jährlich rund 6 Billionen US-Dollar an Umweltschäden durch industrielle Landwirtschaft und den massiven Einsatz chemischer Mittel. Das sind Schäden, die im Endpreis nicht auftauchen.
Auch das Bundesamt für Umwelt (BAFU) kommt zum klaren Schluss: Importierte Lebensmittel verursachen oft eine höhere Umweltbelastung als inländische Produkte, insbesondere bei Flugtransporten und in Produktionssystemen mit geringer Umweltregulierung.
Ein Markt, der diese realen Kosten systematisch ignoriert, belohnt kurzfristige Effizienz und bestraft langfristige Verantwortung. Wer Versorgungssicherheit ernst nimmt, muss nicht nur rechnen, sondern auch verstehen, wo und wie unsere Nahrung entsteht. Und dass bäuerliche Strukturen kein Anachronismus sind, sondern ein tragender Pfeiler der Zukunft.
Was man an der Wirtschafts-Uni nicht lehrt: Versorgungssicherheit beginnt nicht im Supermarkt
Ökonomisch klingt der Vorschlag der JFDP durchdacht. Politisch ist er naiv. Denn wer Versorgungssicherheit ohne Produktion denkt, handelt wie jemand, der seine Heizung verkauft, weil irgendwo im Dorf ein Fernwärmenetz geplant ist. Aber Papier wärmt nicht, und Pläne auch nicht.
Kurzum: Wirtschaftsuniversitäten lehren viel: Mikro, Makro, Trade-offs. Was sie weniger lehren: Verantwortungsgefühl. Das feine Sensorium dafür, dass wirtschaftliche Entscheidungen Folgen haben, nicht nur für Preise, sondern für Menschen, Böden, Landschaften und Generationen.
Wer Agrarzölle kritisiert, muss auch beantworten, wie Landwirtschaft, Biodiversität und Ernährungssicherheit ohne Schutz, Anerkennung und realistische Umweltkosten bestehen sollen.
Denkpause statt Bauernopfer
Die Forderung der Jungfreisinnigen ist kein Skandal, aber sie ist symptomatisch für eine Debatte, in der Effizienz zum Totschlagargument wird und alles, was nicht unmittelbar Gewinn bringt, als Ballast gilt. Vielleicht braucht es nicht weniger Zölle, sondern mehr Verständnis für das, was unsere Landwirtschaft tatsächlich leistet und was auf dem Spiel steht, wenn wir sie über den Preis ruinieren.
Politik sollte mehr sein als nur die Verwaltung von Marktinteressen. Sie ist, (oder sollte es zumindest sein) eine Kunst der Verantwortung. Wer sie ernst nimmt, opfert nicht die Bauern, sondern denkt weiter.
Wer nur auf günstige Ware setzt, bekommt am Ende vor allem eines: unreife Tomaten.
Quellen:
Artikel in der NZZ
FAO 2023: The State of Agricultural Commodity Markets
Amnesty International
BAFU, Umweltbelastung der Ernährung, 2020
UNEP


